Kind-sein weltweit

Seit 1984 fragen wir uns was bedeutet Kind-sein weltweit. Auf diese Frage suchen wir Antworten.

Die Zahl der Kinder, die auf der Straße leben und arbeiten steigt stetig. 1984 waren es ca. 70.Mio, heute sind es viermal so viele, obwohl pädagogische Maßnahmen, Initiativen und Organisationen wie Pilz entstanden sind, stellen wir uns  immer wieder die Frage: Was machen wir falsch?

Das Internationalen Straßenkinder Archiv fordert alle internationalen Einrichtungen, Projekte und Organisationen auf, mehr an die Kinder dieser Welt zu denken. Die Gelder für die Kinder direkt zu investieren – anstatt hohe und kostenintensive Personal- und Infrastrukturen zu unterhalten. Das Geld und Spenden mehr in Bildung zu investieren – anstatt “Almosen” zu verteilen. Durch Bildung profitieren alle Menschen.

Durch Bildung könnten Erwachsenen Verantwortung lernen. Es muss ihnen bewusst werden, dass ein Kind zur Welt zu bringen mit Verantwortung verbunden ist. Das ist keine Bagatelle.

Junge Eltern müssen gestärkt werden: Dass heißt, es muss mehr unternommen werden, dass Heranwachsende reifer werden, bevor sie Kinder zur Welt bringen.

Am Ende muss eine Gesellschaft dafür sorgen, dass junge Eltern Arbeit bekommen, die ausreicht um eine Familie zu ernähren.

“Angesichts des weltweit rasanten Wachstums der Metropolen leben immer Kinder im Elend der Slums. Die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen – rund eine Milliarde – wächst heute in Städten auf. Jedes dritte Kind wird in einem Slum groß, oft unterernährt, unter furchtbaren hygienischen Bedingungen, ohne Zugang zu Schulen und Gesundheitsversorgung.” (Unicef-2012/13)

“In den Metropolen der Entwicklungs- und Schwellenländer werden 30 bis 50 Prozent der Neugeborenen nicht einmal registriert – existieren offiziell also gar nicht.” (Unicef-2012/13)

Die Verantwortlichkeiten zum Handeln liegen bei den Eltern, aber auch bei allen anderen Erwachsenen. Kinder haben Rechte!

Weitere Informationen zu dem Bericht „Zur Situation der Kinder in der Welt“ können auf www.unicef.org nachgelesen werden.

 

Pulga

Einmal erzählte mir Pulga von einem Traum:

“Ich habe heute von meiner Mutter geträumt, ich hörte sie mich rufen und ich erschrak so sehr, dass ich wach wurde. Ich träume viel von meiner Mutter. Ich sehe sie im Traum weinen und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich sie verlassen habe. Ich denke, dass ich kein gutes Kind war. Eines Tages träumte ich, dass ich nach Hause zurückkam und meine Mutter im Sterben lag. Meine kleinen Geschwister saßen an der Bettkante und weinten. Ich habe meine Mutter gesehen und war sehr traurig. Sie wirkte mir gegenüber sehr enttäuscht, und ich bin wieder auf die Straße gegangen. Aber das war nur ein Traum. Wenn ich so etwas träume, denke ich oft an meine Mutter, weil sie mir sagte, wenn man von den Toten träumt, so wird jemand in der Familie heiraten. Das ist eine gute Nachricht, aber wenn man etwas anderes träumt, z.B. von Hochzeit, so wird jemand sterben.

Manchmal sind meine Träume fürchterlich und sehr beängstigend. Andere Male träume ich, dass ich ganz reich bin und zu meiner Mutter komme, und ich gebe ihr alles, was sie sich wünscht. Ich kaufe ihr alles, was sie haben will, und ich sehe sie lachen und sich freuen. Diese Träume machen mich glücklich, aber wenn ich wach werde, sehe ich, dass ich auf der Straße bin und dass ich friere. Ich bin bei meinen Kumpels, und sie sind eigentlich meine einzige Familie. Ich träume auch oft von den Razzien der Polizei. Sie schlagen uns dabei. Manchmal sind diese Träume real. Ich spüre Schmerzen, aber das ist, weil die Polizisten uns, während wir schlafen, wirklich schlagen. Ich werde dadurch wach und meine Knochen tun weh. Meine Mutter erzählte mir, als ich noch klein war, von einem Teufel, der ungehorsame Kinder mitnimmt. Ich hatte immer Angst vor diesem Teufel. Ich dachte, er würde mich auch mitnehmen.

Die ersten Tage auf der Straße bin ich überängstlich gewesen. Ich fühlte mich verfolgt, und deshalb habe ich viel Marihuana geraucht, um alles zu vergessen. Ich konnte einige Bilder in meinem Kopf nicht loswerden, und das machte mich krank.”


La Gata

“Das akzeptieren sie nicht, dass ich frei bin und mein eigenes Leben habe.”

Sie war zwölf Jahre alt und besuchte die dritte Grundschulklasse, als sie von zu Hause wegging. Sie weigerte sich, nach Hause zurückzukehren und die Schule weiter zu besuchen. La Gata erzählte über die Gründe, aus denen sie ihr Elternhaus verlassen hatte, folgendes:

“Ich hatte meinen Vater einfach satt! Er glaubte, mir immer alles befehlen zu können, wozu er Lust hatte. Mein Vater wollte ständig etwas von mir. Er war der Meinung, ich sollte ihm jeden Wunsch, auch sexuell, erfüllen, weil ich seine Lieblingstochter war. Ich weinte immer, aber meine Tränen interessierten ihn nicht. Ich wusste nicht mehr, wie ich mich dagegen wehren könnte. Deshalb bin ich eines Tages von der Schule nicht mehr nach Hause gegangen. Da habe ich Lupe kennengelernt. Als erstes wollte sie meine Schulhefte sehen, und ich sollte ihr erzählen, was ich in der Schule lernen würde. Sie lachte und sagte mir, dass das alles nur Scheiße wäre. Ich sagte ihr, sie habe recht, und dann bin ich mit ihr zusammengeblieben.”(Conto 1998. S. 86)

“Ich gehe nicht in ein Internat! Das wollte meine Mutter, als ich ihr erzählte, dass mein Vater ständig etwas von mir wollte. Beide wollten mich ‚totschlagen‘, weil ich weggeblieben bin! Deshalb habe ich Angst, nach Hause zurückzugehen, aber ich habe oft Heimweh. Ich habe fünf Brüder und noch zwei Schwestern. Seitdem meine älteste Schwester aus dem Haus gegangen war, blieb ich ganz allein, denn meine älteren Brüder waren auch alle weggegangen. Meine Mutter arbeitet in einem Geschäft als Verkäuferin. Aber sie will mich nicht sehen. Damals, als ich ihr sagte, dass ich nicht wüsste, warum mein Vater mich oft abends weckt und mit mir solche Sachen macht, schrie sie mich an und behauptete, ich wäre eine Lügnerin, eine Hure und zu nichts zu gebrauchen. Ich weinte ununterbrochen und sprach nicht mehr mit ihr. Als sie mir sagte, dass ich verschwinden und nicht solche Lügen verbreiten sollte, denn mein Vater sei ein guter Mann, den sie nicht verlieren wolle, wusste ich, dass ich nun ganz allein war. Ich verstand meine Mutter nicht. Ich wünschte mir, dass sie auf meiner Seite stehen und mich verteidigen würde. Eigentlich war sie eine gute Frau, denn sie war immer lieb zu uns und sorgte dafür, dass wir die Schule besuchten. Aber sie war so selten zu Hause, und wenn sie von der Arbeit zurückkam, war sie so erschöpft, dass wir sie kaum sahen. Sie stand früh auf und sagte uns, was wir machen sollten, und blieb dann bis abends weg. Meine Schwester und ich mussten immer alles zu Hause machen: kochen, waschen und das Haus in Ordnung halten. Wir wohnten im Stadtviertel “Lucero”. Dort hatten wir eine kleine Zweizimmerwohnung.

Mein Vater kam nach Hause, wann es ihm passte. Er belästigte mich ständig und prügelte mich beinahe zu Tode, wenn ich mich weigerte, ihm zu gehorchen. In diesem Haus konnte ich nicht einmal in Ruhe schlafen. Ich musste früh aufstehen, viel arbeiten, und nur wenn ich Zeit hatte, konnte ich die Schule besuchen.” (Ebd. Seite 69ff.)

La Gata teilte das Schicksal vieler Mädchen, die sexuell missbraucht werden. Im Gegensatz zu anderen rebellierte sie und verließ ihr Elternhaus, in der Hoffnung, neue Wege zu finden. Sie fühlte sich nun auf der Straße freier und glücklicher. Über das sexuelle Verlangen und die Herrschsucht ihres Vaters war sie sehr verbittert. (…). Die Spontanität und Selbstverständlichkeit, mit der La Gata mir begegnete, machte es mir leicht, den Kontakt zu ihr aufzubauen. Ich bekam den Eindruck, dass sie mich als eine unbeteiligte Instanz brauchte und jemanden haben wollte, der sie verstand und akzeptierte.

La Gata verhielt sich auffallend anders als die anderen Mädchen. Sie wirkte ausgeglichen, ihre Bewegungen und Haltungen spiegelten ihre innerliche Ruhe wieder. In ihren Urteilen bezog sie sich fast ausschließlich auf ihre Erfahrungen. Sie wollte unabhängig sein und lehnte es ab, sich in etwas einzumischen, was sie binden oder verpflichten würde. Trotzdem war sie gut in die Gruppe integriert und war bei den meisten Aktivitäten dabei. Sie äußerte oft ihre Meinung, auch wenn diese von denen der anderen Gruppenmitglieder abwich. Innerhalb der Gruppe wird sie akzeptiert, gerade weil sie sich anderen gegenüber als sehr hilfsbereit zeigt. La Gata hatte versucht, zu ihrer Familie zurückzukehren:

“Ich bin nach Hause gegangen, um zu sehen, was dort läuft. Ich freute mich, meine Geschwister wiederzusehen, und hatte auf einmal das Gefühl, dass ich wieder nach Hause wollte. Als meine Eltern mich sahen, fragten sie mich, was ich zu Hause suche und was ich wolle. Mein Vater sagte zu mir, ich solle verschwinden und keine Lügen verbreiten, denn er habe mir nichts getan, und meine Mutter würde mir sowieso nichts glauben.” (Ebda.)

Für la Gata schien die Zeit des Pendelns zwischen Familie und Straße noch nicht abgeschlossen zu sein. Ihr Besuch zu Hause löste einen großen Konflikt in ihr aus. Sie fühlte sich erneut abgelehnt, von ihren Eltern verleugnet. Sie waren nicht bereit, ihr die Wärme und Geborgenheit zu geben, die Kinder von ihren Eltern erwarten dürfen. Ihre Eltern sehen in ihr nur einen Störfaktor. Sie darf fortan nicht einmal zu ihren kleineren Geschwistern Kontakt haben.

“Schließlich sagten sie, ich sei eine Hure, und schmissen mich raus. Ich glaube, das war das letzte Mal, dass ich zu meiner Familie zurückkehren wollte! Jetzt sind die alle für mich gestorben!” (Ebda, S. 70f.)

Verwirrter als vorher kehrte la Gata deshalb wieder auf die Straße zurück.


aus: Die Straßenkinder von Bogotá – Ihre Lebenswelt und Überlebensstrategien. Conto, Dolly. 5. Auflage. IKO -Verlag. Frankfurt am Main, 1998. Seite 29.


Adrian

Adrian ist ein Kind mit Migrationshintergrund, das in Deutschland lebt.

Der dreijährige Adrian hat eine etwas dunklere Haut als die anderen deutschen Kinder. Nach zwei Wochen im Kindergarten kommt er nach Hause und reibt Hände und Unterarme. Er geht sofort ins Badezimmer und versucht “die Farbe” abzuwaschen. Auf sein Verhalten angesprochen erzählt er, dass die anderen Kinder ihn für dreckig gehalten haben.

Am nächsten Tag geht die Mutter mit in den Kindergarten, um sich erneut ein Bild über die Verhältnisse dort zu machen. Sie spricht mit ihrem Kind wie zu hause spanisch, mit den anderen Kindern und dem Personal deutsch. Nach den ersten Worten kichern die anderen Kinder. Schließlich lachen sie und sagen: “Was sind das komische Laute! Die sprechen nicht mal wie wir.”

Die Mutter erklärt, dass es außer Deutsch andere Sprache auf der Welt gibt.

Adrian, heute 16 Jahre alt, der  bis dahin spanisch zu Hause gesprochen hat, verweigert ab damals spanisch zu sprechen.